9. Juni 2015
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Zur Geltendmachung einer Verletzung von Art. 8 Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) durch die Entziehung des elterlichen Sorgerechts für vier Kinder und drei Kinder aus erster Ehe sowie zum Verbot des Umgangs mit allen Kindern.
Verstoßen deutsche Familiengerichte mit ihren Sorgerechtsentzugsentscheidungen und mit Entscheidungen, das Aufenthaltsbestimmungsrecht auf das Jugendamt zu übertragen, gegen Menschenrechte?
Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 11057/02) gegen die Bundesrepublik Deutschland zu Grunde, die zwei deutsche Staatsangehörige, Frau H. und Herr H. ("die Beschwerdeführer"), am 6. März 2002 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten ("die Konvention") beim Gerichtshof eingereicht hatten.
Die Beschwerdeführer machten geltend, dass durch die Entziehung des elterlichen Sorgerechts für ihre vier Kinder und die drei Kinder aus der ersten Ehe sowie das Verbot des Umgangs mit allen Kindern Artikel 8 der Konvention verletzt worden sei.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs stellt das Zusammensein für einen Elternteil und sein Kind einen grundlegenden Bestandteil des Familienlebens dar, und innerstaatliche Maßnahmen, die die Betroffenen an diesem Zusammensein hindern, bedeuten einen Eingriff in das durch Artikel 8 der Konvention geschützte Recht. Die angefochtenen Maßnahmen stellen eindeutig einen Eingriff in das nach Artikel 8 Abs. 1 geschützte Recht der Beschwerdeführer auf Achtung ihres Familienlebens dar.
Ein Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens zieht eine Verletzung des Artikels 8 nach sich, soweit er nicht "gesetzlich vorgesehen" ist, ein Ziel oder Ziele verfolgt, die nach Artikel 8 Abs. 2 rechtmäßig sind, und zur Erreichung dieses Ziels oder dieser Ziele "in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist".
Obwohl der Schutz des Einzelnen gegen willkürliche Maßnahmen von staatlicher Seite wesentlicher Zweck von Artikel 8 ist, können darüber hinaus positive Schutzpflichten bestehen, die mit einer wirksamen Achtung des Familienlebens verbunden sind. Daher muss der Staat, da, wo familiäre Bindungen entstanden sind, grundsätzlich in einer Weise handeln, die so bemessen ist, dass diese Bindung sich entwickeln kann und Maßnahmen ergreifen, die dem Elternteil und dem Kind eine Zusammenführung ermöglichen.
Nach Auffassung des Gerichtshofs zielten die von den Beschwerdeführern gerügten Gerichtsentscheidungen auf den Schutz "der Gesundheit oder der Moral" und "der Rechte und Freiheiten" der Kinder ab. Sie verfolgten also legitime Ziele im Sinne von Artikel 8 Abs. 2.
Bei der Entscheidung darüber, ob die angefochtene Maßnahme "in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" war, hat der Gerichtshof zu prüfen, ob die zur Rechtfertigung dieser Maßnahme angeführten Gründe in Anbetracht des Falls insgesamt im Sinne von Artikel 8 Absatz 2 der Konvention zutreffend und ausreichend waren. Der Begriff der Notwendigkeit setzt voraus, dass der Eingriff einem dringenden sozialen Bedürfnis entspricht und insbesondere in Bezug auf das rechtmäßig verfolgte Ziel verhältnismäßig ist.
Die Aufgabe des Gerichtshofs besteht nicht darin, an die Stelle der nationalen Behörden zu treten, um deren Aufgaben in Bezug auf die Regelung der staatlichen Betreuung von Kindern sowie der Rechte von Eltern, deren Kinder unter staatliche Obhut gestellt worden sind, wahrzunehmen; er hat lediglich im Lichte der Konvention die Entscheidungen zu überprüfen, die diese Behörden in Ausübung ihres Ermessens getroffen haben. Welcher Ermessensspielraum den zuständigen innerstaatlichen Behörden dabei einzuräumen ist, hängt von der Art der streitigen Fragen und dem Gewicht der betroffenen Interessen ab. Zwar haben die Behörden insbesondere in Notfallsituationen einen großen Ermessensspielraum bei der Beurteilung der Frage, ob ein Kind in Pflege zu nehmen ist; der Gerichtshof muss im Einzelfall dennoch überzeugt sein, dass die Umstände das Verbringen des Kindes rechtfertigen, und es ist Aufgabe des beklagten Staates sicherzustellen, dass die Auswirkung der beabsichtigten Betreuungsmaßnahme auf Eltern und Kind sowie etwaige Alternativen zur Stellung des Kindes unter staatliche Obhut vor Durchführung einer derartigen Maßnahme sorgfältig geprüft worden sind.
Darüber hinaus stellt die staatliche Inobhutnahme eines neugeborenen Kindes eine äußerst einschneidende Maßnahme dar. Nur bei Vorliegen außerordentlich zwingender Gründe kann ein Säugling gegen den Willen der Mutter im Wege eines Vorgehens, in das weder die Kindesmutter noch ihr Partner einbezogen worden sind, sofort nach der Geburt physisch von ihr getrennt werden.
Im Zuge eines Verbringens zur Betreuung bedarf es einer strengeren Prüfung bei weiter gehenden behördlichen Beschränkungen, wie beispielsweise bei Einschränkungen des Sorgerechts und des Umgangs der Eltern sowie bei gesetzlichen Maßnahmen, die einen wirksamen Schutz des Rechts von Eltern und Kindern auf Achtung ihres Familienlebens gewährleisten sollen. Solche weiter gehenden Beschränkungen bergen die Gefahr, dass die Familienbeziehungen zwischen den Eltern und einem kleinen Kind endgültig abgeschnitten werden.
Wenn ein Kind in Pflege gegeben wird, sollte dies im Regelfall als vorübergehende Maßnahme angesehen werden, die abzubrechen ist, sobald die Umstände dies zulassen, und zeitweilige Fürsorgemaßnahmen sollten dem eigentlichen Ziel, die leiblichen Eltern und das Kind zusammenzuführen, gerecht werden. Insoweit ist ein gerechter Ausgleich zwischen den Interessen des in Pflege gegebenen Kindes und denen des Elternteils an einer Zusammenführung mit dem Kind herbeizuführen.
Artikel 8 der Konvention enthält zwar keine ausdrücklichen Verfahrenserfordernisse, aber der mit den Eingriffsmaßnahmen verbundene Entscheidungsprozess muss fair und so gestaltet sein, dass die gebührende Achtung der durch Artikel 8 geschützten Interessen sichergestellt ist. Der Gerichtshof hat deshalb zu entscheiden, ob die Beschwerdeführer in Anbetracht der Umstände des Falls und vor allem der Bedeutung der zu treffenden Entscheidungen in den Entscheidungsprozess als Ganzes so weit eingebunden waren, dass der erforderliche Schutz ihrer Interessen gewährleistet war.
Wenn zum Schutz eines Kindes Sofortmaßnahmen durchgeführt werden müssen, akzeptiert der Gerichtshof, dass es in Notfallsituationen nicht immer möglich ist, diejenigen, denen die Personensorge für das Kind zusteht, in den Entscheidungsprozess einzubinden. Dies kann, selbst wenn die Möglichkeit dazu besteht, auch nicht wünschenswert sein, sofern von den Personensorgeberechtigten eine unmittelbare Gefährdung des Kindes ausgeht, durch eine Vorwarnung könnte die Maßnahme nämlich ins Leere laufen. Der Gerichtshof muss jedoch überzeugt sein, dass die nationalen Behörden davon ausgehen konnten, dass die Umstände es rechtfertigten, das Kind ohne vorangehende Gespräche oder Beratung abrupt der Betreuung durch seine Eltern zu entziehen. Dem beklagten Staat ist insbesondere aufgegeben festzustellen, ob die Auswirkung der beabsichtigten Betreuungsmaßnahme auf Eltern und Kind sowie etwaige Alternativen zur Trennung des Kindes von seiner Familie vor Durchführung einer Betreuungsmaßnahme sorgfältig geprüft worden sind. Die Tatsache, dass ein Kind in einem für seine Erziehung günstigeren Umfeld untergebracht werden könnte, kann an sich nicht rechtfertigen, es im Wege einer Zwangsmaßnahme der Betreuung durch seine biologischen Eltern zu entziehen; es müssen andere Umstände vorliegen, die auf die "Notwendigkeit" eines derartigen Eingriffs in das Recht von Eltern auf Familienleben mit ihrem Kind aus Artikel 8 schließen lassen.
Die Begründung in der Kurzfassung:
Die Frage, ob erwiesen sei, dass die Kinder einer Gefährdung ausgesetzt waren, sei nicht angemessen geprüft worden. Gefehlt habe insbesondere die Prüfung des Vorbringens der Beschwerdeführer und der Möglichkeit, alternative Maßnahmen anzuordnen, die nicht mit einem vollständigen Entzug des elterlichen Sorgerechts verbunden gewesen wären. Dem Familiengericht hätten keine Informationen über die möglichen Folgen seiner Entscheidung vorgelegen, da das Jugendamt und der Sachverständige hierzu nicht Stellung genommen hätten. Bei der Prüfung der Vor- und Nachteile einer familienrechtlichen Maßnahme müsse man jedoch in Erwägung ziehen, dass eine Trennung der Kinder von ihren Eltern die Entwicklung der Kinder gefährden könne. Der Gerichtshof schließt aus diesen Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts, dass die vorläufige Entziehung des Sorgerechts und das Verbringen der Kinder nicht zutreffend und hinreichend begründet waren und die Beschwerdeführer in den Entscheidungsprozess nicht so weit eingebunden waren, dass der erforderliche Schutz ihrer Interessen Gewähr leistet war. Der Gerichtshof stellt darüber hinaus fest, dass, ehe Behörden in schwierigen Sachen wie Betreuungsanordnungen Sofortmaßnahmen ergreifen, die unmittelbare Gefährdung tatsächlich nachgewiesen sein sollte. Es treffe zu, dass es bei eindeutiger Gefährdung einer Einbeziehung der Eltern nicht bedarf. Wenn jedoch noch die Möglichkeit besteht, die Kindeseltern anzuhören und die Notwendigkeit der Maßnahme mit ihnen zu besprechen, solle es keinen Raum für eine Sofortmaßnahme geben; dies gelte insbesondere wie im vorliegenden Fall dann, wenn die Gefährdung schon seit Langem bestand. Hinsichtlich der Methode der Vollziehung des Beschlusses des Amtsgerichts vom 17. Dezember 2001 führt der Gerichtshof weiter aus, dass das plötzliche Verbringen von sechs Kindern aus Schule, Kindergarten und häuslicher Umgebung und ihre Unterbringung in unbekannten Pflegefamilien und Heimen sowie das Verbot jeglichen Umgangs mit den Beschwerdeführern durch die Lage nicht erfordert gewesen sei und nicht als angemessen angesehen werden könne. Insbesondere stelle das Verbringen eines neugeborenen Kindes aus dem Krankenhaus eine äußerst einschneidende Maßnahme dar, bezüglich deren es den zuständigen nationalen Behörden oblegen habe zu prüfen, ob in einer derartig entscheidenden Phase im Leben der Eltern und des Kindes kein milderer Eingriff in das Familienleben zu Gebote stand. Denn ein Säugling könne nur bei Vorliegen außerordentlich zwingender Gründe der Obhut seiner Mutter gegen deren Willen im Wege eines Verfahrens, in das weder die Kindesmutter noch deren Ehemann einbezogen worden sind, sofort nach der Geburt entzogen werden. Der Gerichtshof ist jedoch nicht überzeugt, dass derartige Gründe in Bezug auf die im Krankenhaus geborene Tochter nachweislich vorlagen. Er weist in diesem Zusammenhang auf die maßgebliche Bedeutung hin, die der Zeit zukommt, weil immer die Gefahr bestehe, dass Verfahrensverzögerungen zu einer faktischen Entscheidung der dem Gerichtshof vorgelegten Frage führen. Darüber hinaus führe die drakonische Maßnahme, der Mutter die Tochter der Beschwerdeführer kurz nach der Geburt wegzunehmen, zwangsläufig zur Entfremdung des Kindes von seinen Eltern und Geschwistern und berge die Gefahr, dass die Familienbande zwischen den Eltern und dem Kleinkind endgültig abgeschnitten werden. Nach alledem kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass der Beschluss des Amtsgerichts Münster vom 17. Dezember 2001, die Tatsache, dass den Beschwerdeführern die Einbindung in den Entscheidungsprozess zu Unrecht versagt worden ist, die zur Vollziehung dieses Beschlusses angewandten Methoden, insbesondere die drakonische Maßnahme, das neugeborene Kind kurz nach der Geburt von seiner Mutter zu trennen, und besonders die Unumkehrbarkeit dieser Maßnahmen nicht zutreffend und hinreichend begründet waren und nicht als in einer demokratischen Gesellschaft "notwendig" angesehen werden können. Der Gerichtshof erklärt folglich Artikel 8 EMRK für verletzt.
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Urt. v. 08.04.2004, Az.: 11057/02.